Regine Hildebrandt

Regine Hildebrandt „vom Ende des Geldes“

Wer kennt einen glücklichen Millionär? Niemand? Das dachte ich mir. Und wer kennt einen armen Tropf, der glücklich ist? Auch niemand. Geld schafft kein Glück. Mein Traum ist: Brecht die Zinsherrschaft! Keine Macht dem Geld! Seid Menschen, die friedlich tauschen, was sie brauchen, helft, wenn ihr Leid seht, zieht den Nachbar aus dem Sumpf, bevor er versunken ist. Mein Traum kennt nur Menschlichkeit im Sinne von Nächstenliebe. Kein Platz für den schnöden Mammon, der die Leute zu Abhängigen von Kontoständen, Billigangeboten und Kaviarregalen macht. Der Gesellschaft ist das Maß abhanden gekommen. Die Menschen trudeln zwischen den Gefühlen „mies“ und „blendend“. Aber zufrieden? Das scheint niemand mehr zu sein.

Ich baue mir ein Dorf. Ich taufe es auf den Namen Sozialgemeinde. Hier haben alle Menschen meinen Segen. Stabile Familien und zerrüttete Gemeinschaften. Der Austausch von Leistungen steht im Mittelpunkt, nicht das Erwerben einer Leistung. Eltern wollen ins Theater gehen, also gibt es jemanden, der die Kinder hütet. Die Gegenleistung? Man mäht ihm den Rasen oder schneidet ihm die Bäume. Das Wasserrohr eines Bauern ist defekt? Der Klempner klempnert, der Bauer bezahlt mit Obst. Soziales Leben, wie ich es mir vorstelle: Behinderte Kinder gehen mit Nichtbehinderten in gemeinsame Kindergärten, alte Leute haben gemeinsame Clubräume mit HipHop-Kids, Autowerkstätten verbünden sich zu technischen Hilfezentren, und das Handwerk hat einen Fonds für Menschen mit chronisch nassen Wohnungen. Man lebt wieder solidar anstatt allein; der kurze Draht zu den Gelben Seiten wird ersetzt durch den Blick über die Hecke des Nachbarn. Wenn Begehr gegen Begehr gehandelt wird und nicht Geld gegen Begehr, hat der Mammon nichts mehr zu melden, und dem Neid geht der Schneid verloren.

Die Orientierung an Jesus Christus gibt meinem Traum Halt. „Sorge um das Reich Gottes“ heißt für mich, sich sorgen um Nächstenliebe und Gerechtigkeit. Diese Maßstäbe sind in der Gesellschaft nicht mehr präsent. Wie implantiert man sie wieder? Die einzige Möglichkeit ist: Fang bei dir selber an. Das kannst du beeinflussen. Jeder kann etwas für die Verbesserung der Verhältnisse tun. Es geht mir nicht um die piätistisch-bekenntnishafte Art der kirchlichen Terminologie. Das ist mir zuwider, gegen diese Floskeln bin ich allergisch. Nur die entmythologisierte Kirche kann Antworten geben, kann Probleme im Miteinander herunterbrechen auf ein menschliches Maß. Die Richtung ist klar: Hilf einem anderem, dann wird dir geholfen.

Der Traum vom Ende des Geldes hat mit dem gern unterstellten Sozialneid auf die Millionäre dieser Welt nichts zu tun. Es ist meine ganz persönliche Sicht auf die Struktur dieser Gesellschaft. In unserer Gesellschaft hat sich alles verkehrt. Man kauft sich, was man braucht.

Auch die einfachste Hilfe ist für Geld zu haben. Mark und Pfennig bestimmen unsere Abläufe: im Job, in der Familie, beim Essen, bei der Kleidung, beim Reisen und beim Sterben. Das schafft Frust und Neid. Was wäre, wenn es plötzlich kein Geld mehr gäbe? Oh, wie die Themen sich verändern würden, wie man sich plötzlich liebte und verehrte, weil man auf die Kraft der Arme und den Erfindungsreichtum des Kopfes angewiesen wäre! Die Starken tragen die Schwachen. Und wenn sich dann der Himmel öffnen und es Geld regnen würde, bückten sich die Menschen nicht wie geistig verwirrt, sondern würden über diesen Spuk lauthals lachen.

Regine Hildebrandt, war neun Jahre Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie in Brandenburg. Vor der Wende engagierte sie sich in der Bürgerbewegung Demokratie. Sie starb am 26.11.2001 an Krebs.

Die ungekürzte Fassung dieses Textes finden Sie in der ZEIT Nº 32/1999

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